Die Musik-Formel:

Lieder können zu Tränen rühren und Massen in Ekstase treiben. Wie ist das möglich? Forscher entschlüsseln, wie sich physikalische Schwingungen in Gefühle verwandeln - und wie die rätselhafteste aller Künste einst entstanden ist. Machte erst die Musik den Menschen zum sozialen Wesen?


Johann Sebastian Bach wird überdauern. Selbst wenn ewiges Eis die Erde unter sich begraben sollte oder die Sonne ihren Planeten verbrennt - dem C-Dur-Präludium aus dem zweiten Teil des "Wohltemperierten Klaviers" des Meisters wird all das nichts anhaben. Das Musikstück wird auch nach dem Ende des Planeten Erde noch an Bord der "Voyager"- Raumsonden auf der Reise zu fernen Welten sein. Gepresst auf eine vergoldete Kupfer- Schallplatte, entfernt es sich derzeit minütlich um gut tausend Kilometer von der Erde. Außer der Bach-Komposition finden sich 26 weitere Musikstücke sowie Grußworte in 55 Sprachen auf dem Tonträger, der im All Jahrmilliarden überdauern soll. Sogar einen Alu- Plattenspieler samt Gebrauchsanweisung hat die Raumsonde im Gepäck - vorgesehene Laufgeschwindigkeit: 16 2/3 Umdrehungen pro Minute. Die musikalische Botschaft soll fernen Zivilisationen vom menschlichen Genius künden. Musik, so scheint die Übereinkunft, gehört zur Essenz intelligenten Lebens, zu jenen Dingen, die das Menschsein erst ausmachen. Was aber sollte ein außerirdischer Empfänger eigentlich mit der akustischen Botschaft anfangen? Die Abbildungen vom Planeten Erde und dem Menschen - auch sie an Bord der Voyager-Sonden - erlauben ihm, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie die Absender der geheimnisvollen Botschaft aussehen und woher sie stammen. Auch Worten und mathematischen Formeln lässt sich ein Sinn entlocken, wenn erst einmal der dazu notwendige Code geknackt ist. Aber einem Präludium? Muss es nicht jedem Nicht- Menschen nur als Krach erscheinen? Musik ist die wohl merkwürdigste Kunstgattung, die der Mensch je hervorgebracht hat. Anders als Malerei, Poesie oder Bildhauerei stellt sie die Welt nicht dar. Ein Akkord bedeutet nichts, eine Melodie hat keinen Sinn. In ihrem Kern ist Musik reine Mathematik - berechenbare Luftschwingungen, deren Frequenzen sich nach physikalischen Regeln überlagern. Und doch geschieht eine Art Wunder: Mathematik verwandelt sich in Gefühl. Musik kann zutiefst berühren. Kaum ein Mensch ist immun gegen ihre Magie. So sinnentleert die Aneinanderreihung von Tönen scheint, keine Kultur mag darauf verzichten. Ob die Gamelan-Musik Indonesiens, die doppeltönigen Kehlgesänge der Nomaden im sibirischen Tuva oder der wundermächtige Sopran einer Maria Callas: Musik bewegt, provoziert, entzückt.

 

Quelle: Christoph Pollag